Während meines heutigen Rundgangs durch Brügge schweift mein Blick plötzlich nach oben – und bleibt an einem Dachreiter hängen, an den sich eine kleine Aussichtsplattform schmiegt. Dort oben stehen Menschen, den Blick gebannt nach unten gerichtet, als wollten sie die historische Dachlandschaft umarmen. Spontan schießt es mir durch den Kopf: Da muss ich rauf. Wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, folge ich diesem Impuls. Mein Weg führt mich in den Innenhof eines Lokals. Dort hängt ein Schild, das verheißungsvoll nur ein Wort trägt: „Tickets“ In meinem besten Hinterhof-Englisch mache ich der Dame hinter dem Tresen klar, dass ich ein Ticket für die Aussichtsplattform möchte. Ein Dialog entspinnt sich:
„Sie sind bestimmt Deutscher?“
„Oh – ist mein Englisch so schlecht?“
„Nein, aber nur die Deutschen wollen nach oben, um nach unten zu schauen.“
„Und die anderen?“
„Die kaufen ein Ticket für die Brauereibesichtigung. Die Plattform ist da mit drin.“
„Mich interessiert die Brauerei nicht. Mir reicht die Aussicht.“
„Eben. Wie gesagt – Menschen aus aller Welt kommen hierher. Aber niemand will nur hoch, um runterzuschauen.“
Ich gehe nachdenklich weiter. Was ist es eigentlich, das mich immer wieder nach oben zieht?
Mir fällt auf, dass ich auf Reisen jede Gelegenheit nutze, einen Aussichtspunkt zu erklimmen. Warum eigentlich? Vielleicht, weil ich das große Ganze liebe: Dachlandschaften, die sich wie Puzzles zusammenfügen. Straßenzüge, die wie pulsierende Adern das Herz der Stadt am Leben halten. Oder auch: Wunden, die erst aus der Höhe sichtbar werden. Von unten zeigt sich oft nur die Kulisse – hübsch zurechtgemacht, einladend, aber nicht immer echt. Der Blick von oben aber offenbart Zusammenhänge. Er lässt Strukturen erkennen, zeigt Unvollkommenheiten, Ehrlichkeit, Tiefe. Fast so, wie wenn ein Mensch einen Blick hinter seine Fassade gewährt – echt, verletzlich, und gerade deshalb berührend.
Vielleicht ist das mein innerer Antrieb: nicht nur nach oben zu steigen, sondern auch im Gespräch mit Menschen jene kleinen Fenster in ihre Innenwelten zu finden. Manchmal gelingt es – dann entsteht dieser eine kostbare Moment. Und manchmal gehe ich verstört weiter, weil mir Antworten fehlen. Wie kurz darauf, vor dem Historischen Museum von Brügge. Auf einem Schild lese ich:
„Experience the golden age of Bruges“
Erleben Sie das goldene Zeitalter Brügges.
Wann bitte war das?
„In der Historium-Story nehmen wir Sie mit auf eine Zeitreise ins mittelalterliche Brügge.“
Das Mittelalter? Diese Verklärung einer Zeit voller Leid und Entbehrung habe ich nie verstanden. Ich denke an Mittelaltermärkte, auf denen sich wohlgenährte Mitteleuropäer in „Gewandung“ werfen, schwitzen, nur um eine Epoche zu feiern, in der Krieg, Pest, Ausbeutung und niedrige Lebenserwartung allgegenwärtig waren. Ein goldenes Zeitalter? Ich habe mehr Fragen als Antworten. Und einem Nachmittag, der Raum lässt zum Nachgrübeln.
Übrigens:
Brügge im Jahr 2025 ist definitiv eine Reise wert. Eine Stadt, die fesselt. Mit prächtig restaurierten Fassaden, freundlichen Menschen und Spezialitäten, die es wert sind als solche bezeichnet zu werden (Stichwort: Schokolade!).
Und wer die Ruhe sucht, spaziert an einem der vielen Kanäle entlang – und lauscht der Magie des Augenblicks.
Reise-Prädikat: Absolut empfehlenswert.